Exilliteratur – Teil 15: Erich Mühsam
Fang das Wort auf und fülle dein ganzes Herz damit an, und dann gib es weiter an die Menschen. Das Wort heißt Freiheit!
Erich Mühsam
Der Schriftsteller Alfred Kantorovicz äußert sich über Erich Mühsam folgendermaßen: Wahrhaftig, wer ihn nicht näher kannte, hätte befürchten können, daß er sogleich eine Bombe aus der Tasche ziehen und unter die Menge werfen würde. Wer ihn aber kannte, wußte, daß er der gütigste, hilfsbereiteste und dabei für seine eigene Person zugleich selbstloseste Mann war, den man sich vorstellen konnte.
Erich Mühsam: Kindheit und Jugend
Über Kindheit und Jugend beziehungsweise deren Auswirkung auf sein späteres Leben vermerkt der Publizist, Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam lakonisch:
Geboren 6. April 1878 in Berlin; Kindheit, Jugend, Gymnasialbesuch in Lübeck; unverständige Lehrer, niemand, der die Besonderheit des Kindes erkannt hätte, infolgedessen: Widerspenstigkeit, Faulheit, Beschäftigung mit fremden Dingen. Frühzeitige Dichtversuche, die weder in der Schule noch im Elternhause Förderung finden, im Gegenteil als Ablenkung von der Pflicht betrachtet werden und deshalb im geheimen geübt werden müssen. (…) Mein Werdegang und meine Lebenstätigkeit wurden bestimmt von dem Widerstand, den ich von Kindheit an den Einflüssen entgegensetzte, die sich mir in Erziehung und Entwicklung im privaten und gesellschaftlichen Leben aufzudrängen suchten. Die Abwehr dieser Einflüsse war von jeher der Inhalt meiner Arbeit und meiner Bestrebungen.
Sein Vater ist Apotheker und Mitglied der Lübecker Bürgerschaft. An ihn erinnert sich Erich Mühsam folgendermaßen: Es steigt etwas wie Haß in mir auf, wenn ich daran zurückdenke, wenn ich mir die unsagbaren Prügel vergegenwärtige, mit denen alles, was an natürlichen Regungen in mir war, herausgeprügelt werden sollte.
Über den Direktor des von ihm besuchten Gymnasiums, dem berühmten „Katharineum“, veröffentlicht er 1896 im „Lübecker Volksboten“ eine Glosse. Dies führt zu seinem Schulverweis wegen „sozialistischer Umtriebe“. – Wenige Jahre später legen auch Heinrich und Thomas Mann in ihren Romanen „Professor Unrat“ bzw. „Buddenbrooks“ ein beredtes Zeugnis über den Ungeist dieser Lehranstalt ab. Erich Mühsam beendet das Gymnasium mit der Untersekunda (10. Klasse) im von Lübeck über 150 Kilometer entfernten Parchim. Anschließend absolviert er auf Wunsch des Vaters eine Apothekerlehre.
Als Erich Mühsam erfährt, dass das älteste mittelalterliche Haus Lübecks mit der darin befindlichen „Löwen-Apotheke“ aus Spekulationsgründen abgerissen werden soll, initiiert er eine erfolgreiche Kampagne zur Rettung dieses noch heute zu besichtigenden architektonischen Kleinods. Der Aktion folgt die Strafversetzung durch den Vater nach Berlin. Dort arbeitet der aufmüpfige Sohn vorerst als Apothekengehilfe.
Erich Mühsam: Schriftsteller – Anarchist – Revolutionär
Ab 1901 wirkt er in der Hauptstadt des Deutschen Reiches als freier Schriftsteller. 1904 erscheint unter dem Titel „Die Wüste“ sein erster Gedichtband. Er tritt mit seinen Liedern im Kabarett der „11 Scharfrichter“ auf und schreibt für den „Simplicissimus“.
1908 siedelt er sich dauerhaft in Schwabing an und wird Teil der Münchner Bohème, jenes Kreises von BürgerInnen (KünstlerInnen und LiteratInnen), die, der Doppelmoral ihrer Klasse überdrüssig, keine BürgerInnen mehr sein wollen.
Die Mitmenschen, die mit lachendem Munde und weinendem Herzen die Kaschemmen und Bordelle bevölkern, die Herbergen der Landstraße und die Wärmehallen der Großstadt, der Mob, von dem selbst die patentierte Vertretung des so genannten Proletariats weit abrückt: Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Bohème, die einer neuen Kultur die Wege weist. Erich Mühsam
Nachdem Erich Mühsam in München das Sub- bzw. „Lumpenproletariat“ revolutionär zu organisieren versucht, landet er 1910 erstmalig im Gefängnis.
In der Auseinandersetzung mit den Schriften anarchistischer Theoretiker wie Pierre-Joseph Proudhon, Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin und Gustav Landauer, der Erich Mühsam Mentor und Freund ist, aber auch beeinflusst durch Max Stirner und Friedrich Nietzsche entwickelt er seine Weltsicht.
Über Anarchismus, wie er ihn versteht, schreibt er:
Anarchie bedeutet Herrschaftslosigkeit. Wer den Begriff mit keinem Gedanken verbinden kann, ehe er ihn nicht zur Zügellosigkeit umgedeutet hat, beweist damit, daß er mit den Empfindungsnerven eines Pferdes ausgerüstet ist. Anarchie ist Freiheit von Zwang, Gewalt, Knechtung, Gesetz, Zentralisation, Staat. Die anarchische Gesellschaft setzt an deren Stelle: Freiwilligkeit, Verständigung, Vertrag, Konvention, Bündnis, Volk.
Er veröffentlicht Gedichtbände, Bühnendramen, Sachbücher, politische Aufsätze und Essays. Seine Bekanntheit als Schriftsteller beruht vor allem auf sein satirisches Werk und seine Lyrik.
42 Hefte – sein Tagebuch
Während eines Sanatoriumsaufenthaltes im August 1910 fühlt er das Verlangen, ein Tagebuch zu führen. Seine Aufzeichnungen beginnen mit dem lapidaren Satz: Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dies Heft zu kaufen.“ Seine Devise beim Schreiben lautet: „Also, ich will ehrlich sein, soweit ich es vor mir selbst nur kann …“
Bis 1924 wird Erich Mühsams 42 Hefte mit rund 7000 handschriftliche Seiten verfassen. Dieses einzigartige Zeitdokument wurde bis auf sieben Hefte, die verschollen sind, im Verbrecher Verlag veröffentlicht. Ergänzend zur Printausgabe könne die Hefte online nachgelesen werden.
Erster Weltkrieg – Heirat – Räterepublik
Zwischen 1911 und 1919, unterbrochen durch die Zeit des Ersten Weltkrieges, gibt er die Zeitschrift „Kain“ heraus, sie trägt den programmatischen Untertitel „Zeitschrift für Menschlichkeit“.
Nach Ausbruch des Krieges versucht er erfolglos einen internationalen Bund der KriegsgegnerInnen zu gründen. Erich Mühsam wird zu einem engagierten Mitorganisator von Protesten und Streiks gegen das Morden für Gott und Vaterland.
Schlaf, mein süßes Söhnchen, oh schlaf,
Weißt ja noch nichts von Unheil und Not,
Weißt nichts von des Vaters Heldentod,
Als ihn die bleierne Kugel traf.
Früh genug wird der Krieg und der Schrecken
Dich zum ewigen Schlummer erwecken …
Friede, behüt´ meines Kindes Schlaf!
Schlaf, mein Söhnchen, oh schlaf …
Aus dem 1920 entstandenen Gedicht „Wiegenlied“ von Erich Mühsam (1878-1934)
1915 heiraten Erich Mühsam und die niederbayerische Bauerntochter Kreszentia (Zenzl) Elfinger. Einige Jahre später schreibt er übe sie: „Diese Frau hat mir der Himmel selbst geschickt.“
Der dänische Schriftsteller Andersen-Nexö meint über das Ehepaar Mühsam, sie sei „durch und durch Land und freier Himmel“, und er „die Großstadt mit Ästhetik und Bücherluft“ – sie bezeichnet er als „die unerschrockenste Frau, die das bayerische Bauernland hervorgebracht“.
Durch das Fehlen der verschollenen Hefte überliefert das Tagebuch nichts über die Rolle von Erich Mühsam im Januarstreik 1918, in der Novemberrevolution und der Münchner Räterepublik. Die Lücke umfasst den Zeitraum zwischen Oktober 1916 und April 1919. Seine Aufzeichnungen werden erst wieder am 27. April 1919, vierzehn Tage nach seiner Verhaftung, fortgesetzt.
Erich Mühsam erlebt das Ende der Räterepublik im Gefängnis, was ihm als einem ihrer führenden Köpfe möglicherweise das Leben rettet. Dem Blutrausch der bayerischen Freikorps-Einheiten fallen um den 1. Mai 1919 Hunderte RevolutionärInnen, aber auch viele ZivilistInnen zum Opfer. In den folgenden Wochen werden über 2200 UnterstützerInnen der Räterepublik von Standgerichten zum Tode oder zu Haftstrafen verurteilt. Der über ihn verhängte Richterspruch lautet auf 15 Jahre Festungshaft.
Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen!
Aus dem im August 1919 in der Haft entstandene Gedicht „Der Gefangene“ von Erich Mühsam.
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass durch die polizeiliche Beschlagnahmung seiner Manuskripte am 13. April 1919 das Tagebuch vor der Vernichtung durch die Konterrevolution bewahrt wird. Als Erich Mühsam Ende 1924 durch eine Amnestie freikommt, wird es ihm unversehrt ausgehändigt.
Die 20er-Jahren
Nach seiner Entlassung aus der Haft engagiert sich Erich Mühsam in der Gefangenenhilfsorganisation „Rote Hilfe Deutschland“. Zu diesem Zeitpunkt sind einige Tausend politische Gefangene im Deutschen Reich inhaftiert, manche warten seit 1919 auf ihre Freilassung. Deren Angehörige erhalten keinerlei staatliche Unterstützung und leiden meist große Not. Allein von 1924 bis März 1929 finanziert die RHD Rechtsschutz und Unterstützung für 27.000 Personen und 16.000 Inhaftierte in Höhe von 4 Millionen Reichsmark.
Im Laufe seines Lebens arbeitet Erich Mühsam unter anderem als Herausgeber, Redakteur, Lyriker, Dramatiker, Kritiker, Kabarettist, ist ein mitreißender Redner und ein begabter Zeichner. Er illustriert viele seiner Gedichte und sendet seiner Frau anlässlich des 9. und des 18. Hochzeitstages aus der Haft jeweils ein Bilderbuch mit Gedichten und Federzeichnungen.
Von September 1927 bis April 1929 veröffentlicht Erich Mühsam seine „Unpolitischen Erinnerungen“ in der „Vossischen Zeitung“. Der Auftrag der Zeitung lautet, zurückzublicken und sich dabei aus der (Tages )politik herauszuhalten. Es entstehen einfühlsame Porträts von ZeitgenossInnen wie Frank Wedekind, Franziska von Reventlow, Peter Altenberg, Karl Kraus oder Joachim Ringelnatz, bei denen im Hintergrund seine politische Sichtweise mitschwingt.
Im ersten Kapitel schreibt er: Unpolitische Erinnerungen eines politischen Menschen! Aber warum soll ein Ackerbauer nicht, ehe das Korn schnittreif ist, die Blumen holen aus seinem herbstelnden Garten? Die Arbeit auf dem Felde wird darum doch getan. Ich soll Memoiren schreiben? Ich werde euch, meine Freunde, hin und wieder ein paar Blumen aus dem Garten holen. Aber ich habe, wenn auch die Fünfzig bald da sind, auf meinem Ackerfelde noch viel zu tun.
hKonzentrationslager und Ermordung
Anfang Februar 1933 sah Erich Mühsam in seiner letzten öffentlichen Rede die Ereignisse kommen: Und ich sage euch, dass wir, die wir hier versammelt sind, uns alle nicht wiedersehen. Wir sind eine Kompanie auf verlorenem Posten. Aber wenn wir hundertmal in den Gefängnissen verrecken werden, so müssen wir heute noch die Wahrheit sagen, hinausrufen, dass wir protestieren.
Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes vom 27. zum 28. Februar 1933 wird Erich Mühsam verhaftet. Die Stationen seines Leidensweges sind das Polizeipräsidium in Berlin, das Gefängnis an der Lehrter Straße, das KZ-Sonnenburg, das Gefängnis in Plötzensee und die Konzentrationslager Brandenburg und Oranienburg.
Kreszentia Mühsam berichtet über einen Besuch bei Erich Mühsam im KZ Oranienburg:
Er saß auf einem Stuhl, hatte keine Brille auf – man hatte sie ihm zerbrochen – , die Zähne waren ihm eingeschlagen, und sein Bart war von den Unmenschen so zugestutzt, daß der jüdische Typ zur Karikatur gewandelt war. Als er mich sah, stieß er hervor: ‚Warum bist du in diese Hölle gekommen?‘ Und beim Abschied: ‚Eins merke dir, Zenzl, ich werde ganz bestimmt niemals feige sein!‘
Joseph Goebbels spricht das Todesurteil über Erich Mühsam. „Dieses rote Judenaas muss krepieren!“ Nach einem viele Monate dauernden Martyrium wird Erich Mühsam in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS ermordet.
Das Schicksal kann den Körper prügeln,
kann mit Kandare, Sporen, Bügeln,
den Fuß, die Hand, die Stimme zügeln.
Der Geist steigt auf mit freien Flügeln
und lacht ins Tal von Wolkenhügeln.
Kreszentia Mühsam
Kreszentia Mühsam (Elfinger) gelingt es, den Nachlass von Erich Mühsam nach Prag in Sicherheit zu bringen. In der Folge emigriert sie in die Sowjetunion und übergibt dort seine Tagebücher und weitere Unterlagen dem Maxim-Gorki-Institut zur Archivierung und Publikation. Kurz danach wird sie festgenommen und verbringt die Zeit bis Mitte der 50er Jahre mit kurzen Unterbrechungen im Gefängnis und in Arbeitslagern bzw. in Verbannung. 1956 darf sie in die DDR ausreisen und stirbt 1962 in Ost-Berlin.
Weiterführende Links
Erich-Mühsam-Gesellschaft
Die letzten Monate des Erich Mühsam
Erich Mühsam – Lebensdaten, Bibliographie, Leseproben
Kreszentia Mühsam
Exilliteratur und Bücherverbrennung im Überblick
Einen Gesamtüberblick über die Themen Exilliteratur und Bücherverbrennung im Wiener Bücherschmaus finden Sie auf der Seite Bücherverbrennung und Exilliteratur im Nationalsozialismus.
Fotoquellen:
Das Foto von Erich Mühsam ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“ lizenziert Bundesarchiv, Bild 146-1981-003-08 / Autor unbekannt / CC-BY-SA 3.0
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