Historisches
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Ende der Blockade von Leningrad – Befreiung von Auschwitz

Über das „selektive“ historische Gedächtnis

Foto mit befreiten Kindern au dem KZ-AuschwitzAm 27. Jänner jedes Jahres gedenken wir weltweit der Opfer des Nationalsozialismus respektive des Holocausts.

Es ist der Tag, an dem sowjetische Truppen 1944 nach 872 Tagen der Blockade Leningrad, das heutige St. Petersburg, befreien. Auf den Tag genau ein Jahr danach befreit die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz.
An beiden Orten hinterlassen die Nationalsozialisten jeweils über eine Million Tote.

Etwas mehr als drei Monate später, am 8./9. Mai 1945, endet der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht.

2005 erklärt die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Jänner durch die Resolution 60/7 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts.

Während das Gedenken an Auschwitz und den Holocaust in Österreich und Deutschland im Bewusstsein vieler Menschen Wurzeln geschlagen hat, wird die Erinnerung an die Blockade Leningrads, insbesondere in Österreich, wenig gepflegt.

Foto Emilia Chibor, Arbeiterin in einr Bäckerei während der Blockade von Leningrad

Die Blockade von Leningrad

Leningrad 1941: Die Rote Armee organisiert die Verteidigung der Stadt. Sie errichtet in und um die Stadt an der Newa mit der Unterstützung hunderttausender Zivilisten Schützengräben, Bunker, Panzersperren und Minenfelder.

Die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion mit ihren zirka drei Millionen Einwohnern soll ausgehungert und den Erdboden gleichgemacht werden. Immer mit dem Ziel vor Augen, Lebensraum für den „Deutschen Herrenmenschen“ im Osten zu schaffen und die Stadt der Oktoberrevolution als eines der Zentren der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ auszulöschen.

Joseph Goebbels, der nationalsozialistische Propagandaminister, gibt im Sinne Adolf Hitlers den Takt vor:

„Vom Bolschewismus darf nichts mehr übrig bleiben. Der Führer hat die Absicht, Städte wie Moskau und Petersburg ausradieren zu lassen. Es ist das auch notwendig. Denn wenn wir schon Russland in seine einzelnen Bestandteile aufteilen wollen, dann darf dieses Riesenreich kein geistiges, politisches oder wirtschaftliches Zentrum mehr besitzen.“

Anfang September 1941 haben die Deutsche Wehrmacht und die mit ihr verbündeten finnischen Truppen den Kessel geschlossen und Leningrad von sämtlichen Landverbindungen abgeschnitten. Es beginnt ein intensiver Beschuss der Stadt, der auch gezielt gegen Lebensmittellager gerichtet ist. Erst im Jänner 1943 wird es wieder möglich sein, eine schmale Landverbindung mit dem belagerten Leningrad herzustellen.

Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb, zu diesem Zeitpunkt Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, schreibt im Oktober 1941:

„Es ist heute die Entscheidung des Oberkommandos der Wehrmacht bezüglich der Stadt Leningrad gekommen; danach darf eine Kapitulation nicht angenommen werden.“

Der einzig verbleibende Weg für die Versorgung der Stadt führt über den Ladogasee. Über diese ständig unter Beschuss befindliche dünne Lebensader gelangen im Sommer Schiffe und im Winter Lastwagen und Eissegler mit Proviant in die belagerte Stadt.

Eduard Wagner, Generalquartiermeister im Oberkommando des Heeres im November 1941:

„Es kann keinen Zweifel unterliegen, daß insbesondere Leningrad verhungern muß, denn es ist nicht möglich, diese Stadt zu ernähren. Aufgabe der Führung kann es nur sein, die Truppe hiervon und von den damit verbundenen Erscheinungen fern zu halten.“

Blockade von Leningrad - auf dem Foto eine Patient mit schwere MangelernährungDer Überlebenswillen der Männer und Frauen in Leningrad ist nahezu unvorstellbar. Die Temperatur fällt im Winter bis auf minus 40 Grad. Die Menschen müssen teils mit einer täglichen Brotration von 125 Gramm auskommen. Der Tod kommt meist still, aber nicht unerwartet. Man bleibt geschwächt und ausgemergelt in der Wohnung oder auf der Straße liegen und stirbt. Und trotz Hunger, der fallenden Bomben und Granaten und den Tod vor Augen sind Theater und Kinos geöffnet, Kinder gehen zur Schule und in zahlreichen Fabriken wird produziert.

„Meine Ninotschka weinte ständig, lange und gedehnt und konnte nicht einschlafen. Ihr Weinen war wie ein Stöhnen und brachte mich schier um den Verstand. Damit sie einschlief, ließ ich sie mein Blut saugen. Längst hatte ich keine Milch mehr in der Brust, ja, ich hatte überhaupt keine Brüste mehr, sie waren verschwunden.
Deshalb stach ich mir mit einer Nadel über dem Ellenbogen in den Arm und legte die Kleine an diese Stelle. Sie saugte leise und schlief ein.“

Lidija Ochapkina – zitiert aus dem Blockadebuch von Daniil Granin und Ales Adamowitsch

Die 7. Sinfonie in C-Dur, op. 60 von Dmitri Schostakowitsch, Leningrader Sinfonie genannt, wird inmitten der Blockade Leningrads am 9. August 1942 aufgeführt. Zu Gehör gebracht wird die Sinfonie von den vierzehn, zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Musikern des Leningrader Rundfunkorchesters unter Karl Eliasberg. Sie wird von allen sowjetischen Rundfunksendern übertragen und ist mithilfe von Lautsprechern in der ganzen Stadt zu hören.

Schostakowitsch widmete seine Sinfonie „… unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem sicheren Sieg über den Feind und meiner Heimatstadt Leningrad.“

In weiterer Folge wird die „Leningrader“ zu einem Symbol des Antifaschismus weit über die Sowjetunion hinaus.

Es dauert noch mehr als ein Jahr, bis Leningrad befreit werden kann. Am Ende der Blockade sind über ein Million Menschen tot, die meisten von ihnen verhungert.

Die Überlebenden der Blockade von Leningrad

Heute leben nur mehr weniger als 60.000 Leningrader und Leningraderinnen, die den Horror der Blockade von 1941 bis 1944 durchlitten haben. Obwohl die Nationalsozialisten, als sie die Bevölkerung von Leningrad mittels Hunger und Kälte auszumerzen suchen, keinen Unterschied bei der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit machen, haben bisher lediglich Menschen jüdischen Glaubens von Deutschland eine Einmalzahlung in der Höhe von 2.556 Euro erhalten. Außerdem haben sie seit 2021 auch Anspruch auf monatliche Pensionszahlungen.

Die Forderung der Überlebenden an Deutschland, endlich allen heute noch lebenden Opfern des Völkermords humanitäre Leistungen zukommen zu lassen, bleibt bisher unerfüllt.

Insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Dienst in der Deutschen Wehrmacht bis heute als „Ersatzzeit“ in Zusammenhang mit Pensionsansprüchen anerkannt wird, erscheint diese Haltung unverständlich. Selbst deutsche Kriegsverbrecher partizipieren von dieser Regelung und sogar SS-Angehörige anderer Staaten erhalten Pensionszahlungen von Deutschland.
Die deutsche Bundesregierung stellt sich jedenfalls bisher auf dem Standpunkt, dass mit den geleisteten Reparationszahlungen nach 1945 und dem 1953 durch die Sowjetunion erfolgten Verzicht auf weitere deutsche Zahlungen die Fragen der „Hilfszahlungen an nichtjüdische Opfer“ abgeschlossen ist.

Zugleich betont das Auswärtige Amt in Berlin: „Deutschland setzt sich dafür ein, dass die Erinnerung an die Gräuel deutscher Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg weiterhin aufrechterhalten wird und bekennt sich ausdrücklich zu seiner historischen Verantwortung für die in Leningrad durch die deutsche Wehrmacht begangenen Verbrechen.“

Was bleibt, ist ein schaler Beigeschmack, wenn die deutsche Bundesregierung nicht mehr als eine „Geste der Versöhnung und des Erinnerns“ zustande bringt. In diesem Rahmen fördert sie laut eigener Aussage die Begegnung von Jugendlichen mit Blockadeopfern und sie unterstützt die Modernisierung eines Krankenhauses in St. Petersburg für die Blokadniki.

Literatur von Zeitzeugen der Blockade Leningrads

Ales Adamowitsch, Daniil Granin: Blockadebuch
Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen.
Jelena Skrjabina: Leningrader Tagebuch.
Lena Muchina, Lenas Tagebuch, Leningrad 1941-1942

Der selektive Antifaschismus der EU

Die EU setzt sich das Ziel, die Verbreitung von Desinformation und Fehlinformationen im Internet zu bekämpfen, um den Schutz der europäischen Werte und demokratischen Systeme zu gewährleisten.

Sie selbst nimmt es mit der Wahrheit allerdings nicht immer so genau. So war in der Erklärung der Europäischen Kommission anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages ursprünglich Folgendes zu lesen:

„Am 27. Januar 1945 hatten die Alliierten das Konzentrations- und Todeslager Auschwitz-Birkenau befreit.“

Zwischenzeitlich wurde der Text angepasst, aktuell kann man folgendes lesen:

„Der 27. Januar ist der Internationale Holocaust-Gedenktag, an dem sich die Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau dieses Jahr zum 79. Mal jährt.“

Die „Alliierten“ werden nicht mehr fälschlicherweise als Befreier genannt, allerdings wird nach wie vor verschwiegen, wer Auschwitz befreit hat.

Leidet man in der Europäischen Kommission an Amnesie? Ist es politisches Kalkül? Jedenfalls ein Weg, die Verdienste der Roten Armee bei der Befreiung vom Nationalsozialismus unter den Tisch zu kehren. Zugleich ist es ein probates Mittel, das Andenken an die mindestens 27 Millionen toten Bürger und Bürgerinnen der UdSSR, die im Kampf gefallen oder verhungert sind; als Jude, Zigeuner oder Kommunist ermordet wurden, unauffällig zu „entsorgen“.

Ein Schelm, wer in diesem Zusammenhang meint, die Halbwahrheit sei ein besonders subtiles und dadurch wirkungsvolles Instrument der Desinformation und dieses in der Europäischen Union nicht völlig unbekannt.

Fotoquelle:

Von der Roten Armee“ befreite Kinder aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Urheber: unbekannt. Quelle: Kriegssalbum, via Wikimedia Commons

Emilia Chibor, Arbeiterin in einr Bäckerei packt Brot in Kartons, um es an ein Geschäft im belagerten Leningrad zu schicken. Urheber: Sergej Strunnikow, Public domain, via Wikimedia Commons

Ein Patient mit Dystrophie. Museum der Belagerung von Leningrad. Urheber: I, George Shuklin, CC BY 2.5 , via Wikimedia Commons

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