Exilliteratur – Teil 9: Martina Wied
Martina Wied wird 1882 in Wien in liberal-großbürgerliche Verhältnisse hineingeboren und erhält die Vornamen Alexandrine Martina Augusta. Um eine Verwechslung mit ihrer Mutter, der Schriftstellerin Jenny Schnabl, von vornherein auszuschließen, wählt sie bereits als Schülerin das Pseudonym Martina Wied.
Erste Gedichte publiziert sie in Zeitschriften wie „Simplicissimus“ oder „Jugend“, später auch in „Der Brenner“, der vom österreichischen Schriftsteller und Verleger Ludwig Ficker herausgegebenen Kulturzeitschrift.
Aus einer jüdischen Familie kommend, konvertiert Martina Wied zum Katholizismus. Sie absolviert die Lehramtsprüfung und studiert Kunstgeschichte und Philosophie in Wien. 1910 bricht sie ihr Studium kurz vor der Promotion ab und heiratet den Chemiker Sigmund Weisl. Das junge Paar zieht nach Lódz, wo ihr Mann in einem Textilunternehmen arbeitet. Ein Jahr später wird ihr Sohn Hanno geboren.
1919 erscheint unter dem Titel „Bewegung“ der erste Gedichtband von Martina Wied. In den 20er und 30er Jahren publiziert sie in einer Vielzahl renommierter Zeitungen und Zeitschriften Rezensionen, Feuilletons, Erzählungen, Novellen …
1930 stirbt ihr Mann und Martina Wied muss sich und ihren Sohn allein durchbringen. Obwohl sich ihre finanzielle Situation schwierig gestaltet, weigert sie sich, ein Angebot, für die nationalsozialistische Presse zu arbeiten, anzunehmen.
Sie bewegt sich in fortschrittlich-katholischen Kreisen und setzt sich mit dem Marxismus auseinander. Mit Persönlichkeiten wie Karl Kraus, Ludwig von Ficker, Franz Theodor Csokor und Georg Lukács ist sie freundschaftlich verbunden.
1934 erscheint „Das Asyl zum obdachlosen Geist“ als Fortsetzungsroman in der „Wiener Zeitung“. Als erster Roman in Buchform folgt 1936 „Rauch über St. Florian“. Martina Wied führt in dem Werk „… in einem fiktiven österreichischen Idealdorf Dutzende Figuren zusammen, um zu zeigen, daß auch das von der Heimatliteratur so bedenkenlos mythisierte Dorf eine, wie es schon der Untertitel nennt, ‚Welt der Mißverständnisse‘ bildet.“ Aus dem von Karl-Markus Gauß verfassten Vorwort zu „Die Geschichte des reichen Jünglings“, Sisyphus Verlag, 2005.
Martina Wied: Exil – Rückkehr nach Wien
1939 gelingt Martina Wied, sie ist zu diesem Zeitpunkt bereits weit über fünfzig, die Flucht nach Großbritannien. Ihr Sohn kann sich ebenfalls retten, er erhält ein Visum für Brasilien. Bis die beiden einander wieder in die Arme schließen können, werden zehn Jahre vergehen.
Im englischen Exil arbeitet Martina Wied als Lehrerin an verschiedenen Schulen und Mädcheninternaten. In dieser Zeit entsteht auch der Roman „Das Krähennest“. Er ist einer der großen österreichischen Exilromane. 1951 veröffentlicht, spielt er in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und berichtet von Kollaboration, Widerstand, Verrat und über die Not und Einsamkeit im Exil.
In den folgenden Versen, die Teil des Gedichtes „Die Insel“ sind, fasst Martina Wied ihre Erfahrungen und Gefühle aus der Zeit des Exils zusammen.
„Gott hat mich in ein fremdes Land geführt –
Nein, hingesandt, versiegelt und verschnürt –
Ganz willenlos. Und alles ist hier fremd:
Die Kost, der Trunk, die Luft, das Wort, die Tracht –
Und was ich trag‘, geborgt, nichts mein als nur das Hemd
Am Leib – und noch das Heimweh, das ich mitgebracht.“
1947 kehrt Martina Wied nach Wien zurück und erhält fünf Jahre später den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Sie ist damit die erste von lediglich sieben Frauen, die in der Zweiten Republik bisher mit dieser Auszeichnung geehrt werden.
Der von Martina Wied 1944 begonnene Roman „Das Krähennest“ wird 1951 veröffentlicht und zu diesem Zeitpunkt kaum wahrgenommen. Es ist eines jener Bücher, die sich mit den Themen Faschismus und Exil differenziert auseinandersetzen. Eine Form von Literatur, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens keineswegs mehr erwünscht ist: „… mitten im Zweiten Weltkrieg nimmt sie eine Stelle als Sprachlehrerin in einem englischen Internat an. (…) Madeleine versucht sich einzugewöhnen, mit dem Herzen bleibt sie aber ihrem alten Leben verbunden: mit dem von den Nazis besetzten Paris und ihrem ehemaligen Geliebten Ernest, einem prominenten Schriftsteller, der mittlerweile mit den Nationalsozialisten kollaboriert. Madeleine hadert, ob sie nicht doch hätte bleiben müssen, um gegen das Regime zu kämpfen.“ Quelle: Edition Atelier
Das Opus Magnum von Martina Wied
Am 25. Jänner 1957 stirbt Martina Wied und hinterlässt mit „Die Geschichte des reichen Jünglings“ ihr Opus Magnum. 15 Jahre hat sie an den fast 800 Seiten des Romans gefeilt. Neun weitere Jahre hat es gedauert, bis der bereits 1943 vollendete Roman einen Verleger gefunden hat.
Sein Inhalt ist von umfangreichen philosophischen und gesellschaftspolitischen Debatten geprägt. Diese begleiten den Sohn eines polnischen Industriebarons auf seinem Weg der Irrungen, hin zu einem tätigen Christentum, das in einen radikal individualistischen Humanismus mündet. Bis es soweit ist, sucht der „reiche Jüngling“ die Bewältigung seiner Probleme bzw. einen neuen Anfang in nächtlicher Lasterhaftigkeit, später durch wissenschaftliche Arbeit, bis er Iwanow, einem sozialistischen Agitator mit großer Ausstrahlungskraft, folgt.
„Unter einer Zugpende, deren grüner Papierschirm eine schwache Lampe beschattete, saß an einem Tisch mit schmutziger roter Wolldecke, worauf kreisrund wie ein nasser Fleck das Licht lag, der Genosse Iwanow. Bei meinem Eintritt schrieb er, ich hatte zuerst, über das Blatt gebeugt, seinen Kopf mit dünnem rötlichem Haar – seine schmalen Schultern in einer verschossenen Touristenjoppe, seine schmalen, blaugeäderten Hände vor mir, dann sah er auf. Ich blickte in ein mageres Gesicht mit tief eingeschnittenen Kerben, aber, obgleich Iwanow an die vierzig sein mußte, jung; in porzellanblaue, kühl und scharf blickende Augen, auf einen schmalen, unsinnlichen Mund. (…) Iwanow stand auf, er war größer, als er‘s sitzend erraten hatte lassen, aber nicht groß, sein schlechtsitzender, mißfarbener Sportanzug schien ihm zu weit geworden, seine Beine in grünen Wickelgamaschen waren außerordentlich mager, die Hand, die er mir reichte, fühlte sich kalt und trocken an, unkörperlich.“ Aus: „Die Geschichte des reichen Jünglings“, Sisyphus Verlag, 2005, Seite 326.
Es ist übrigens der Philosoph und Literaturhistoriker György Lukács, der sich nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik einige Zeit in Wien aufhält und der durch die Figur des Iwanow in den Roman eingebunden wird. Die Frage, ob sich Lukács in dem Roman wiedererkannt hat, muss leider unbeantwortet bleiben.
Karl-Markus Gauß schreibt im Vorwort des 2005 im Sisyphus-Verlag neu aufgelegten Romans über Martina Wied: „(…) sagt entschieden der Hoffnung ab, die Welt wäre auf politischem Wege und mit politischem Mitteln zum besseren zu verändern; stattdessen setzt sie auf die Läuterung des einzelnen – insbesondere des Mächtigen – und auf eine von Mitgefühl für alle Kreaturen durchtränkte Entsagungsphilosophie. Darin werden ihr die meisten heutigen Leser nicht folgen wollen, das ist aber auch nicht notwendig, um die Ernsthaftigkeit zu erkennen, mit der sie Verhältnisse kritisiert, die den Menschen schinden und das Ebenbild Gottes schänden, und um ihre schriftstellerische Leistung anzuerkennen.“
Literatur von Martina Wied
Martina Wied: Das Krähennest. Edition Atelier, 2021.
Martina Wied: Die Geschichte des reichen Jünglings. Verlag Sisyphus, 2005.
Martina Wied: Das Asyl zum obdachlosen Geist. Verlag Milena, 2020.
Weitere Werke
Bewegung. Gedichte. Wien, Prag, Leipzig: Strache, 1919.
Rauch über St. Florian. Roman. Wien: Fromme, 1936.
Das Einhorn. Roman. Wien: Ullstein, 1948.
Kellingrath. Roman. Innsbruck: Österreichische Verlagsanstalt, 1950.
Brücken ins Sichtbare. Gedichte. Innsbruck: Österreichische Verlagsanstalt, 1952.
Der Ehering. Roman. Innsbruck: Österreichische Verlagsanstalt, 1954.
Exilliteratur und Bücherverbrennung im Überblick
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